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„Siehe, vor dir steht die leere Schale meiner Sehnsucht.“


So betete die hochgebildete Nonne Gertrud von Helfta (Gedenktag 16. November). Sie hatte religiöse Visionen, wie sie für die wachsende weibliche Spiritualität des 13. Jahrhunderts typisch waren. Gertruds mystische Erlebnisse sind in ihrem Buch Legatus divinae pietatis (Gesandter der Göttlichen Liebe) festgehalten.

Über Gertruds Familie ist nichts bekannt; wahrscheinlich war sie aber adlig oder wenigstens wohlhabend. Mit fünf Jahren wurde das Kind als Schülerin in das berühmte Nonnenkloster Helfta in der Nähe von Eisleben aufgenommen, das in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine literarische und spirituelle Blüte erlebte. Um 1270 fand auch die etwa 60jährige Begine Mechthild von Magdeburg Zuflucht im Kloster Helfta. Ihre mystischen Visionen (bekannt unter dem Titel Das fließende Licht der Gottheit) wurden in Helfta aufgeschrieben und sehr bewundert.

Gertrud bekam dort Unterricht in den Grundlagen der artes liberales – Grammatik, Rhetorik, Logik – und lernte die Schriften der Kirchenväter kennen.

Gertrud legte als Lehrerin und Interpretin für ihre Schwestern komplexe theologische Texte aus, verfasste Gebete und schrieb Briefe. Von ihren Schriften sind außer dem Legatus nur die Exercitia spiritualia (Geistliche Übungen) erhalten; auch die mystischen Erfahrungen der Mechthild von Hackeborn, bekannt als Liber specialis gratiae, wurden wohl von Gertrud u.a. aufgeschrieben.

Gertrud wurde von Mitschwestern wie von Außenstehenden vor allem als geistliche Ratgeberin und Fürbitterin aufgesucht. Ihr positives Bild einer Gottheit mit den menschlichen Zügen eines Freundes, einer Mutter oder eines Gatten ist typisch für die Spiritualität des 13. Jahrhunderts. Einzigartig unter den Mystikerinnen ist allerdings ihre selbstbewusste weibliche Stimme. Kraft ihrer inneren Freiheit und Zuversicht kritisierte sie auch furchtlos reformbedürftige Aspekte der Kirche – z.B. den Reliquienkult und den Ablassverkauf.

Gertrud wurde 1678 ins römische Heiligenverzeichnis aufgenommen. Als einzige deutsche Heilige hat sie den Beinamen »die Große«.


Gebet

Wo der Lebenshauch in der Seele atmet,

da kommt sie vom Flehen zum Staunen,

vom Bitten zum Loben.

So kann sie wie eine Lilie das Wasser und das Tal genießen,

so spürt sie die zauberhafte Melodie des Frühlings,

so nimmt sie ihr Aufsprießen wahr.

So kann sie jubeln:

Es jauchzen dir

alle Sterne des Himmels,

die dir mit Freude leuchten.

Es jauchzen dir

die wunderbaren Werke des gesamten Universums,

alles im Umkreis des Himmels, der Erde und des Abgrunds.

Es jauchzen dir

mein Herz und meine Seele

mit der ganzen Substanz meines Fleisches und Geistes

und aus der Wirkkraft des gesamten Universums.

Denn dir sei aus allem, durch alles und in allem

Ehre und Herrlichkeit in Ewigkeit. [1]



[1] Repges, Walter, „Den Himmel muss man sich schenken lassen“. Die Mystikerinnen von Helfta, Leipzig: Benno-Verlag 2001, S.130

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