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Mit Krankheit leben


Krankheiten nehmen wir als Störfälle wahr – als vorübergehende Ausnahmen. Wir meinen, sie lassen sich durch gesunde Ernährung und Lebensweise (Sport) vermeiden. Und wenn sie einen doch erwischt haben, werden Operationen, Chemotherapien und Rehamaßnahmen sie beheben. So denken wir; denn wir leben in dem Bewusstsein, dass wir unser Leben tendentiell im Griff haben.

Diese Sichtweise ist ein Irrtum. Der Philosoph Gernot Böhme sagte dazu: „Es genügt ein Blick auf die Statistik oder ein Blick in die Runde der nächsten Bekannten, um sich davon zu überzeugen, dass diese Auffassung von Krankheit eine Illusion ist. Die wenigsten Krankheiten werden geheilt, die meisten Krankheiten sind solche, mit denen man leben muss, und zwar gibt es jenseits der Kindheit und der ersten Jugendzeit praktisch keinen Menschen, der nicht mit irgendeiner Krankheit leben muss. … Gut-Menschsein heißt eben auch, die eigene Hinfälligkeit und Schwäche, ebenso wie das Geborensein und das Sterbenmüssen, zu leben.“[1]

Religionen nähren freilich die Erwartung, dass das Leben einmal ganz wird. Dass auch die gesellschaftlichen Verhältnisse wieder in Ordnung kommen. Dass Gewalt und Unterdrückung, die maßlose Ausbeutung der Natur einmal ein Ende nehmen. Religionen nennen diesen Zustand „Heil“. Übrigens auch politische Ideologien – denken wir nur an „Heil Hitler“. Der (griechische) Name Jesus kommt vom hebräischen Jehoshua, was „JHWE (Gott) ist Heil“ bedeutet. Dieses Heil beschreibt Jesus als „Reich Gottes“, als Ende von Krieg und Gewalt, als friedliches Zusammenleben in Freude, als Aufhebung von Krankheit und Tod. Solche Hoffnungsträume nennen wir, zurückverlagert an den Anfang der Geschichte, Paradies, in die Zukunft projiziert, Utopie.

Welche Rolle spielten Verletzlichkeit und Krankheit im Leben von Heiligen? Iñigo de Loyola, dessen Gedenktag der 31.Juli ist, wurde 1491 auf Schloss Loyola (Baskenland) geboren und war zunächst auf einer Führungsakademie am kastilischen Hof. Seine schwere Verwundung bei der Verteidigung Pamplonas gegen die Franzosen wurde zur entscheidenden Wende seines Lebens. Sie kann auch als Ursprungserfahrung für den Orden gelten, den er 1540 in Rom gründete – zusammen mit den sieben Gefährten, die sich beim Studium in Paris zusammengefunden hatten.

Die ersten Gefährten wollten eine Geschichte über den Ursprung der Gesellschaft Jesu. Und Ignatius zeigte in seinem „Bericht eines Pilgers“ auf, dass am Anfang seines spirituellen Weges Schwäche und Verletzlichkeit stand. Dass er aber aus dieser Verwundung heraus neu geboren wurde.

In den Monaten der Rekonvaleszenz fühlte er sich verloren, auch weil er die üblichen Freuden – das Spiel, die Damen, die Waffen – nicht mehr genießen konnte. Er befürchtete, dass er den Rest seines Lebens hinken würde und an den Höfen der Adeligen nicht mehr willkommen wäre. Kurz gesagt, es war nicht nur sein Bein, das zerfetzt worden war, sondern seine ganze Identität. Und Ignatius gestand sich – und später seinen Gefährten – ein, dass er gelegentlich von einer Welle der Verzweiflung überwältigt wurde.

Nicht nur Ignatius, auch sein Orden musste Scheitern und Ohnmacht akzeptieren lernen. Am 21. Juli 1773, also vor 250 Jahren, löste der Papst den Orden auf politischen Druck hin auf. Er durfte sich 1814 neu gründen, aber er wurde in vielen Ländern bald wieder verboten – in Deutschland von 1870 – 1918.

Vielleicht brauchen wir solche Geschichten – Geschichten, die verdeutlichen, dass wir keine Angst vor Verletzlichkeit und Schwäche haben müssen. Es braucht Geschichten, die helfen einen veränderten Blick auf die eigene Schwäche und Verletzlichkeit zu gewinnen, ja auf das Leben selbst, welches aus einer Verwundung erblühen kann.

An Geschichten mangelt es nicht, allen voran die von Jesus Christus, dann die von Ignatius und vielen anderen Glaubenszeugen. Wir könnten noch weitere hinzufügen nämlich unsere: meine, Ihre …

[1] Gernot Böhme: Ethik im Kontext. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, 139 f.

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