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Killerwort: Ideologie



Gegenwärtig hat ein alter Begriff Konjunktur: Ideologie. Damit ist einmal die Verführbarkeit von Einzelpersonen zu kruden Ansichten gemeint. Mit dem Aufgreifen von (überkommenen) Vorurteilen und dem Ansprechen von Affekten (wie nationale Demütigung) wird eine Überzeugung gebildet, die nur der eigenen Bezugsgruppe einsichtig ist. Vor allem enthält sie einen Hass-Impuls gegen andere und eine Aufforderung zur Gewalt gegen sie.


So werden, zweitens, Ideologien zu politischen Bewegungen und Systemen. Das 20. Jahrhundert gilt als Jahrhundert der Ideologien – und der Massenmorde. Oppositionelle wurden als nationale Gefahr bezeichnet, die man in „Schutzhaft“ nehmen müsse; das Weltjudentum sei an den Wirtschaftskrisen schuld; und der „Klassenfeind“ verhindere die Herstellung gerechter Verhältnisse und müsse daher vernichtet werden. Zu Recht bekam das Wort Ideologie eine Horror-Aura.

Und heute? Am Beginn der Coronakrise war von „Impfideologie“ die Rede, seit der westlichen Frauenbewegung von „Gender-Ideologie“, neuerdings von „Heizungs-Ideologie“. Gemeinsam ist diesen Spielarten, dass sie damit ein berechtigtes Anliegen in Zweifel ziehen.


Cui bono? Wem nützt diese Verdrehung? Diese „ideologiekritische“ Frage ist das dritte Element. In der französischen Aufklärungsliteratur des 18. Jahrhunderts wurde die Priestertrugs-Theorie formuliert: Die Priester (als der erste Stand) würden absichtlich religiöse Geschichten erfinden, um durch sie das einfache Volk zu beruhigen und so ihre eigene Vormachtstellung zu sichern.


Und heute? Ideologien werden von mehr oder weniger geschickten Politikern (und Kirchenoberen) zur Angstbewältigung eingesetzt: der Angst der Männer vor der Machtübernahme durch die Frauen, der Angst vor Weiterentwicklungen der gewohnten Sprache, vor einschneidenden Veränderungen unseres Lebensstils. Ideologien bieten dabei nur eine Scheinbewältigung an. Denn durch sie werden die Gründe für die Ängste – gesellschaftlicher Bewusstseinswandel oder globale Krisen – nicht wirklich angegangen. Eine erfolgversprechende Krisenbewältigung wird nur verschoben. Vor allem soll sie nicht der Gegenpartei gelingen.


Ideologien klammern die bedrohlichen Aspekte der Wirklichkeit aus und reduzieren das Angebot verfügbarer Informationen auf die mit ihrer Weltsicht kompatiblen. Die großen politischen Ideologien drängten zudem zu Totallösungen, die auf Kosten der Lebendigkeit und des Menschlichen gingen – es waren inhumane „Endlösungen“. Die „kleineren“ Ideologien des heutigen politischen Kampfes sind dennoch nicht harmlos. Sie ersparen ihren Anhängern die Mühe von Umstellungen, die notwendige Zusammenarbeit mit anderen, die Zustimmung zu Kompromissen.


„Glaube, Ideologie und Wahn“, so lautet der Titel des 1984 erschienen Buches des Münchner Psychotherapeuten Werner Huth, den ich sehr schätze. Hier wird den Ideologien und den psychiatrischen Wahnvorstellungen der Begriff des religiösen Glaubens gegenübergestellt. Der Glaube bietet zwar auch keine letzte Sicherheit, weiß sich aber getragen von dem Urvertrauen in eine letzte halt- und sinngebende Wirklichkeit. So beantwortet er die große Frage nach einem Leben nach dem Tod. Aber auch für die konkreten Alltagsprobleme hat er etwas anzubieten: den Mut und die Entschlossenheit, nach wissenschaftlichen Empfehlungen zu suchen und sie geduldig und in Solidarität mit allen Betroffenen umzusetzen.

Die großen Religionen haben sich schon vor Jahrzehnten entschlossen, gemeinsam an der Herstellung gerechter Lebensverhältnisse, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung zu arbeiten. Es ist zu hoffen, dass sich ihre Anhänger nicht von den großen und kleinen Ideologien davon abhalten lassen.


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