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Gewalt im Namen der Religion


Der Schriftsteller Navid Kermani, dessen Eltern aus dem Iran nach Deutschland kamen, erörtert zentrale Fragen nach Gott in einem Gespräch mit seiner 12-jährigen Tochter. Am Ende seines sehr lesenswerten Buches[1] beschreibt er die besondere Situation von iranischen Muslimen im Exil:

„Du hast in Deutschland keine Gemeinschaft von Gläubigen, keine Moscheen, kein Gemeinde-leben. Andere Muslime mögen das haben, aber nicht wir Iraner. Die meisten von uns sind schließlich geflohen vor der Religion, die seit der Revolution in unserem Land herrscht, oder sie sind die Kinder und Kindeskinder von Flüchtlingen und Exilanten. An Praxis hatte ich dir außer meinen eigenen ungelenken Übungen immer nur deine Großeltern zu bieten, die noch mit dem religiösen Kalender aufgewachsen sind, und jetzt ist auch noch Opa tot. Als Muslime sind wir in Europa nun einmal in der Fremde, im Exil.

Aber selbst wenn wir in Iran lebten, wäre es nicht so viel anders. Unter meinen gleichaltrigen oder jüngeren Verwandten und Freunden finde ich keinen mehr, der den Islam praktiziert, also wirklich keinen einzigen. Manche Iraner haben seit der Islamischen Revolution sogar einen regelrechten Abscheu vor der Religion, noch viel mehr als die Menschen in Europa. In Europa trifft die Religion eher auf Gleichgültigkeit und Unwissen. In Iran ist das viel schlimmer, jedenfalls in unseren Kreisen, da wird Religion oft sogar gehasst, und das ist kein Wunder, wenn im Namen der Religion gefoltert und gemordet wird. Mit meiner Frömmigkeit wäre ich auch in Iran und erst recht in Iran fremd.“

Navid Kermani vertritt einen mystischen Islam und entfaltet ihn für seine Tochter und uns Lesende. Seine Übersetzungen von Koranversen, die vom Atmen und Beten, von unserer Verbundenheit mit der ganzen Schöpfung handeln, sind Impulse, die alle Glaubenden übernehmen können. In krassem Gegensatz zu diesen poetischen Texten stehen die Bilder und Nachrichten, die wir gegenwärtig aus dem Iran bekommen – soweit sie durch die Drosselung des Internets und das Verbot ausländischer Berichterstattung überhaupt das Land verlassen. Hier wird ein legalistischer und gewalttätiger Islam gegen seine eigenen Gläubigen repressiv und praktiziert Staatsterror.

Der Iran ist ein Vielvölkerstaat – nur die Hälfte der 80 Millionen Iraner spricht Neupersisch (Farsi). Der Prozentsatz an Moslems (Schiiten, Sunniten und Sufis) wird offiziell mit 90 % angegeben, er dürfte dem freiwilligen Bekenntnis nach niedriger liegen[2]. Dennoch regeln und kontrollieren seit der Revolution Chomeinis (1979) die Mullahs alles und jedes. Die Universitäten, bisher der einzige Ort für politische Debatten und Dissens, wurden in den letzten Wochen gestürmt und Studierende und Lehrende verprügelt und eingesperrt. Schon 2009, 2019 und 2020 waren Protestbewegungen brutal niedergeschlagen worden. Seit Mitte September 2022 sind es vor allem die Frauen, die massenhaft auf die Straße gehen, obwohl sie riskieren, dort verprügelt, mit Gummimunition angeschossen oder eingesperrt zu werden. Inzwischen wurden über 200 – meist junge – Menschen getötet (70 % der iranischen Bevölkerung ist unter 30 Jahre).

Der Auslöser der gegenwärtigen Massenproteste war der gewaltsame Tod der 22-jährigen Kurdin Mahsa Amini, die ihr Kopftuch (Hidschab) in den Augen der Sittenpolizei etwas zu locker trug. Frau – Leben – Freiheit, so skandieren seither die Frauen ihre Forderung nach einem normalen Leben. Junge Frauen machen 65 % der Studierenden aus – die Begrenzung auf 50 % gelang dem politischen System nicht. Doch längst gehen die Forderungen der jungen Generation weiter: „Tod der Diktatur! Nieder mit der islamischen Republik!“

Wer viel weiß, muss deshalb nicht weniger religiös sein. Und wer gesellschaftlich unabhängiger geworden ist, lehnt nicht zwangsläufig die traditionelle Verbundenheit mit der Familie ab. Aber sie oder er dürfen doch fordern, dass die männlichen Autoritäten, vor allem die geistlichen Führer Gerechtigkeit praktizieren und die Unterdrückung zum eigenen Machterhalt unterlassen. Schließlich kennt der Islam – wie das Christentum – in der Nachfolge der jüdischen Religion als Gründungsgeschichte die Befreiung aus dem ägyptischen Sklavenhaus. Gott – ob er nun als Jahwe oder Allah angesprochen wird – ist ein Gott, der hilft, sich aus Unterdrückung zu befreien.

[1] Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott. München: Hanser 2022, S. 232-233. [2] Pooyan Tamimi Arab und Ammar Maleki, beides Religionssoziologen der Universität Utrecht, haben 40.000 Iraner (rekrutiert aus den sozialen Netzwerken, die von75 % der Bevölkerung nutzen) befragt. Danach verstehen sich nur rund 40 Prozent von ihnen als muslimisch. Ausführlicher: https://www.deutschlandfunk.de/saekularisierung-im-iran-islamische-republik-ohne-100.html

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