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Der geteilte Mantel


In der Reihe der großen Weltreligionen wird am Christentum besonders geschätzt, dass es seine Mitglieder zu sozialem Engagement aufruft. Kirchliche Krankenhäuser, Schulen und Sozialzentren von Ordensgemeinschaften sind auch in Ländern wie Indien, die mehrheitlich von anderen Religionen geprägt sind, beliebt – mit deshalb, weil sie ihre Tore für alle offenhalten. Auch in Deutschland wird die „helfende Kirche“ auch von Kirchendistanzierten geschätzt und erfährt große finanzielle Unterstützung des Staates.

Der Vers „Ubi Caritas et Amor – Deus ibi est“ – „Wo Hilfeleistung und Liebe – da ist Gott“ gibt dafür die Richtung an. Wer anderen hilft, besitzt in diesem Moment Macht über sie, er kann sie beherrschen. Und er kann daraus, auch wenn er persönlich schwach ist, Stärke beziehen. Dadurch instrumentalisiert er jedoch die Menschen, die auf seine Hilfe angewiesen sind. Die Verankerung in einem größeren Horizont, von dem man selbst seine Würde und Kraft bekommt, kann einen befähigen, die Würde auch des Ärmeren zu achten und seine Bedürfnisse über die eigenen zu stellen. Natürlich gilt das nur, wenn man sich auch sonst darum bemüht, eine reife und sozial orientierte Persönlichkeit zu sein.

Beispiele dafür sind Heilige wie Vinzenz von Paul (1581 – 1660), der mit Louise de Marillac die „Vinzentinerinnen“ oder „Barmherzigen Schwestern“ gründete. Aber es gibt auch ältere Heilige, die die christliche Spiritualität des Helfens deutlich machten. Der heilige Martin, dessen Gedächtnis am 11. November begangen wird, ist ein besonders populärer Heiliger. In abendlichen Umzügen mit Laternen erinnerten Kinder aus katholischen Kitas an diesen römischen Soldaten des vierten Jahrhunderts. Er tritt beeindruckend auf – in Rüstung, mit Schwert und rotem Mantel, wenn möglich auch zu Pferd. Martin soll bei einem nächtlichen Ritt vor den Toren von Amiens einem frierenden Bettler begegnet, mit dem Schwert seinen breiten Mantel geteilt und die Hälfte dem armen Mann geschenkt haben. So erzählt es die Legende. Aber was weiß man, historisch gesichert, von diesem Mann?

Sein Leben lässt sich in zwei Hälften aufteilen – von jeweils 40 Jahren. Geboren wurde er 316 im heute ungarischen Teil der römischen Provinz Pannonien. Wie sein Vater wurde er Soldat, und das schon mit 15 Jahren. Seine reguläre Dienstzeit von 25 Jahren beendete er, inzwischen 40 Jahre alt, in der Nähe von Worms. Die zweite Hälfte seines Lebens beginnt mit einem Besuch bei Bischof Hilarius von Poitiers; bei ihm lernt er – nach der sozialen Seite des Christentums – auch die spirituelle kennen. Durch ihn ermuntert, gründet er 361 in Ligugé das erste Kloster Galliens. 375 kam das an der Loire gelegene Kloster Marmoutier dazu, das in der Folgezeit zu einem Mittelpunkt monastischer Kultur wurde.

In der Zwischenzeit, nämlich im Jahr 370, wurde Martin zum Bischof von Tours gewählt. Zu diesem historischen Faktum gibt es wieder eine Legende: Martin wollte lieber sein beschauliches Leben als Mönch weiterführen und versteckte sich in einem Gänsestall; aber diese Tiere verrieten durch ihr Geschnatter den suchenden Gläubigen sein Versteck. Den Sitz im Leben hat diese Legende bis heute in dem Umstand, dass um diese Zeit Gänse geschlachtet werden.

Martin blieb 27 Jahre, bis zu seinem Tod, Bischof von Tours. Und er blieb ein sozial aktiver, dabei immer auch spiritueller Geistlicher. Er soll bei allem Tun das ständige Gebet zu Christus geübt haben – das, was man später Herzensgebet nannte. Als er am 8. November 397 starb, wurde sein Leichnam auf der Loire nach Tours gebracht. An den Ufern versammelten sich viele Menschen, in Dankbarkeit für das, was er für sie getan hatte. Er wurde am 11. November in Tours beigesetzt und bald als erster Heiliger verehrt, der nicht Märtyrer war. Sein Grab wurde zu einem Nationalheiligtum der Franken.

Als ein spirituelles Schluss-Zitat eignet sich der zweite Teil jener legendären Szene vor Amiens. Als sich Martin in jener Nacht niederlegte, sah er im Traum Jesus Christus, eingehüllt in die Mantelhälfte, die er dem Bettler geschenkt hatte. Legenden sind also vielleicht historisch nicht gesichert, aber sie geben existentielle, hier glaubensgemäße Wahrheiten wieder: „Was ihr einem geringsten meiner Brüder (und Schwestern) getan habt, das habt ihr mir getan.“

Und weil das Leben des heiligen Martin so beispielhaft ist, mit seiner europäischen wie seiner sozialen Dimension, gibt es seit einigen Jahren einen Martinus-Pilgerweg: von Szombathely (Ungarn) über Österreich, Deutschland, Luxemburg, Belgien nach Tours (Frankreich). Die Halteziele sind nicht nur Kirchen, sondern auch soziale Einrichtungen, Suppenküchen und ähnliches. http://www.martinuswege.eu/wegverlauf.php


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