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Gnade



Ich glaube, es war vor dem österreichischen Nationalfeiertag (26. Oktober), den ich in Salzburg verbrachte. Mit meinen theologisch versierten Gesprächspartnern ging es beim Mittagessen darum, wie schwierig es ist zu erklären, was Gnade ist. Wir kamen zu keiner befriedigenden Antwort.


Der Feiertag selbst war einer jener wunderbaren Sonnentage, die wir in diesem Herbst hatten. Ich entschloss mich zu einer Radtour in den Süden von Salzburg, zum Untersberg hin. Meine Route führte mich zunächst zum Park des Schlosses Hellbrunn – nicht zu jenen „französischen“ Buchs-Rabatten, aus denen hinterlistige Wasserstrahlen herausspritzen, sondern zum „englischem“ Garten daneben, einer großen Wiese mit herrlichen Bäumen, wo sich viele Menschen in der Sonne lagerten. Eine asiatisch ausschauende Radfahrerin kam mir entgegen, warf ihren Kopf zurück und rief aus: „It’s real grace!“ Da hatte ich eine weitere Antwort, aus der Erfahrung eines glücklichen Menschen.


Eine dritte, auch für Weihnachten erhellende Antwort bekam ich, als ich mir kürzlich die neue Übersetzung der Bibel „in gerechter Sprache“ kaufte und dort im Glossar nachschaute. Auf die dortigen Erläuterungen hebräischer und griechischer Begriffe wird im Bibeltext jeweils mit einem kleinen Kreis und dem Begriff am Rand verwiesen. Hier ist es das hebr. „chesed“: die Zuwendung in Familie und Nachbarschaft, auf die man zwar ein Recht hat, die aber gleichzeitig eine freiwillig gewährte freundliche Gabe ist. Der damit verbundene Begriff ist „chen“, was so viel wie Liebreiz und Anmut bedeutet, den eine Person ausstrahlt und die in den Augen einer anderen, oft höhergestellten Person Anerkennung, Wohlwollen und dann auch Wohltaten hervorruft. Für „chesed“ konstitutiv und auch für „chen“ zu berücksichtigen ist die Wechselseitigkeit der Beziehung. Gottes „chesed“ und „chen“ stehen für die liebevolle, umsichtige und nachsichtige Treue zu Menschen. Seine Freundlichkeit ist von Dauer, hat unerschütterliche Gültigkeit. Das griechische Wort „charis“ (von dem sich unser Wort „Charme“ ableitet) nimmt das Wortfeld von „chesed“ und vor allem „chen“ auf und die darin ausgedrückte wechselseitige Beziehung. „Charis“ steht für die freundliche Zuwendung Gottes zu uns, meint aber auch unseren Dank als Reaktion darauf. „Herzliche Zuwendung“ sagt besser als das uns geläufige Wort „Gnade“, was beide Testamente dazu zu sagen haben.


Ist es nicht das, was wir meinen, wenn wir uns gegenseitig beschenken - mit herzlicher Zuwendung, mit Wohlwollen, Freundlichkeit, Güte? „Erschienen ist nämlich die Freundlichkeit [charis] Gottes, die alle Menschen befreit.“ (Brief an Titus 2,11)





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