Der November ist – in unseren Breiten – der Sterbemonat. Die meisten Bäume und Sträucher haben im Oktober ihre Blätter in Farben erglühen lassen. Jetzt, im November löst der Wind sie von den Ästen. Das Leben der Bäume erstirbt zwar nicht, aber es zieht sich in den Stamm und die Wurzeln zurück. Die Sonne geht erst vor 8 Uhr auf und schon bald nach 4 Uhr Nachmittag unter. Sie hat an vielen Tagen nicht mehr die Kraft, den Nebel aufzulösen. Es bleibt den ganzen Tag grau und es wird nicht mehr richtig warm. Bald riecht es nach dem ersten Schnee.
In diese Jahreszeit hat man die allgemeinen Gedenktage an unsere Verstorbenen gelegt: Allerheiligen und Allerseelen (1./2. November), für viele verbunden mit dem Besuch des Familiengrabs. Am Volkstrauertag (2. Sonntag im November) gedenkt man der in den Kriegen gefallenen Soldaten und der Opfer politischer Gewalt. Und schließlich – für evangelische Christen – der Totensonntag am letzten Sonntag vor dem Beginn des Advents. Das sind allgemeine Gedenktage. Für viele von uns ist es dran, sich in den langen Abendstunden persönlich an einen oder mehrere Menschen zu erinnern, die von uns gegangen sind.
Wer den Partner, die Partnerin erst kürzlich verloren hat, für diejenigen ist es so, als ob ein Teil aus ihnen herausgerissen wurde; sie fühlen sich beraubt und verlassen, sind oft verzweifelt. Erst allmählich kommen sie mit dem Alleinsein zurecht, immer wieder fallen sie in tiefe Trauer zurück. Liegt der Tod des Familienmitglieds oder Freundes schon länger zurück, haben wir vielleicht genügend Distanz gewonnen, um zu sehen, was der oder die Verstorbene für uns war: worin hat er oder sie uns behindert, womit uns gefördert oder gar beschenkt? Gerade gegenüber Eltern, an die wir ja so viele große Erwartungen haben, ist es meist eine Mischung von beidem.
Wir können uns auch fragen, was für die verstorbene Person, an die wir denken wollen, wichtig war, was sie besonders schätzte. Vielleicht entdecken wir so ihre Botschaft an uns – die Lehre, die wir aus ihrem Leben ziehen können. Die Lyrikerin Hilde Domin (1909 – 2006) spricht deshalb von „Unterricht“, den sie uns geben:
Jeder der geht
belehrt uns ein wenig
über uns selber.
Kostbarer Unterricht
an den Sterbebetten.
Alle Spiegel so klar
wie ein See nach großem Regen,
ehe der dunstige Tag
die Bilder wieder verwischt.
Nur einmal sterben sie für uns,
nie wieder.
Was wüssten wir je
ohne sie?
Ohne die sicheren Waagen
auf die wir gelegt sind
wenn wir verlassen werden.
Diese Waagen ohne die nichts
sein Gewicht hat.
Wir, deren Worte sich verfehlen,
wir vergessen es.
Und sie?
Sie können die Lehre
nicht wiederholen.
Dein Tod oder meiner
der nächste Unterricht:
So hell, so deutlich,
daß es gleich dunkel wird.
(Hilde Domin: Sämtliche Gedichte. Hrsg. von Nikola Herweg und Melanie Reinhold. Mit einem Nachwort von Ruth Klüger. Frankfurt a. M.: Fischer 2009, S. 65 f.)
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